Als ich mich Ende Juli in die Sommerferien verabschiedet habe, dachte ich, es gäbe voll viele schöne Geschichten zu erzählen, wenn ich mich pünktlich zum Schulbeginn zurückmelde. Aber was dann kam, damit hatte ich nicht gerechnet. Und damit bin ich in den letzten Tagen auch gar nicht fertig geworden.

Die Bilder im Kopf, die Wut im Bauch

Ich konnte nicht schlafen. Und ich konnte auch nicht wach sein. Jeder Zustand tat weh, in mir staute sich so viel Wut und Ärger auf, dass ich nicht wusste, wohin damit. Wie erklärst du deinen Kindern, was da draußen auf der Autobahn bei Parndorf passiert ist? Wie schottest du sie ab vor dem Bild eines kleinen Jungen, der ihr Kindergartenfreund sein könnte, leblos angespült am Badestrand von Bodrum? Wie kannst du ihnen das, was vor deiner Wohnungstür passiert ist, ohne Angst nahe bringen?

Vergangenen Montag sind wir mit ihnen zur Demo gegangen. Als ich vollbepackt mit Buggy und zwei Kids von der U6 am Westbahnhof auftauche und in ein Meer von großteils weißgekleideten, friedlichen Menschen tauche, rennt mir die Ganslhaut über den Rücken. Es ist überwältigend, traurig und doch ermutigend zugleich. Für einen Abend habe ich das Gefühl, dass in diesem Land doch nicht alles falsch läuft. Und dass diese Krise von der alle sprechen auch eine große Chance für unser Land, für ein besseres Europa, sein kann.

Doch tagsüber strömen immer wieder neue Meldungen aus Ungarn – vom Keletibahnhof in Budapest und aus den Flüchtlingslagern – zwischen den Bürotüren herein. Übernachtige Kollegen kommen morgens mit tiefen Augenringen zur Arbeit. Der Kaffeekonsum in der Gemeinschaftsküche ist drastisch gestiegen, seit die meisten von ihnen viel Zeit am West- und Hauptbahnhof verbringen. Und plötzlich ist es am Schreibtisch unmöglich, sich auf den Text für eine neue Broschüre oder das Layout für eine Anzeige zu konzentrieren. Geschweige denn nächste Woche eine Hochzeit fotografieren. Was hat das jetzt noch für einen Sinn?

Abends am Küchentisch, wenn die Kinder im seligen Träumeland sind, immer wieder die gleichen Gespräche: So kann’s nicht weitergehen. Da ist es dann wieder, dieses Gefühl, die Beklommenheit: Ich kann nicht einfach hier sitzen, mich empören und doch gleichzeitig nichts tun.

Aufstehen und Anpacken

Samstag Früh klettere ich wie immer schlaftrunken aus dem Bett und freue mich an der Stille im Haus, wenn alles noch schläft. Aber dann geht alles schnell: Ich lese am Handy, dass seit der Nacht Busse aus Ungarn hunderte Menschen Richtung Österreich bringen und dass die ersten bereits in Wien eingetroffen sind. Und dann packe ich wie in Trance im dunklen Schlaf- und Kinderzimmer warme, trockene Sachen, Decken, Klopapier und Windeln zusammen und mache mich auf den Weg. Am Westbahnhof ist es ähnlich wuselig wie ein paar Tage zuvor bei der Kundgebung. Überall laufen Menschen mit Säcken voll Kleidern, Schuhen herum. Gebrauchte Kinderwagen werden geschoben, Einkaufswagen voll mit Wasser, frischem Obst und Brot herbeigebracht. Es ist Samstag Vormittag und die halbe Stadt scheint hier zu sein. Jeder will etwas tun. Jeden treibt das gleiche Gefühl hierher: Ich kann nicht auf meinem Hintern sitzen und den freien Tag genießen, wenn hier Menschen ankommen, die nichts mehr haben. Außer die Kleider am Leib und ein Herz voller Hoffnung.

Die nächsten Stunden vergehen wie im Flug: Wir richten ein zweites Spendenlager am Bahnhof ein. Menschen, die ich bis vor fünf Minuten nicht kannte, melden sich bei mir und sortieren Berge von Wäsche, Schuhe nach Größen. Immer wieder kommen Neuankömmlinge herein und fragen nach einem Paar Schuhe. Ein kleines Mädchen zittert neben seiner Mutter und hofft, dass es eine passende Jacke bekommt. Vom regen Treiben am Bahnsteig bekommen wir hier wenig mit. Wir wurschteln dahin, immer mehr Spenden werden angeliefert. Irgendwann sind wir voll. Das Sortieren geht weiter – Frauen plaudern während sie Kinderhosen zusammenlegen und werden in wenigen Stunden zur “Dame von der Babyabteilung”. Männer packen an, wühlen sich durch Berge von Schuhen, schleppen von hier nach dort, breiten Planen aus als es zu regnen beginnt. Am späteren Nachmittag wird es ruhig. “Kommen heute noch Züge an? Wie sieht der Plan für die Nacht aus?” wollen die Freiwilligen wissen. Morgen werden einige von ihnen wieder hier sein.

Abends komme ich erschöpft nach Hause. In eine andere, heile Welt. Die Kinder hatten einen aufregenden Tag, die Zweijährige rennt auf mich zu: “Das ist MEINE Mama!” und umarmt mit einem Lachen fest meine Beine. Ich freue mich so sehr, dass ich weinen möchte. Welches Glück, dieses Leben bekommen zu haben. Welches Glück, unsere Kinder sicher zu wissen. In Freiheit. Ohne Angst.

Gemeinsam Wunder wirken

Wir sind am Beginn einer großen Veränderung. Nach vielen Jahren gehen die Menschen heute endlich wieder auf die Straße und fordern Veränderung. Sie haben keine Angst, den Mund aufzumachen. Sie haben keine Angst, gegen die Regeln zu verstoßen. Viele von ihnen setzen sich einfach in ihr Auto und tun, was ihnen ihr Herz sagt: Bringen Hilfe dahin, wo sie gebraucht wird, kaufen beim nächsten Möbelhaus Matratzen und Decken im Dutzend, oder begleiten sogar Flüchtlinge über die Grenze.

Wir haben in den letzten Tagen gesehen, dass alles möglich ist, wenn wir es nur wollen und selbst etwas dafür tun. Wie es in der Politik weitergehen wird, wissen wir nicht. Wir können nur hoffen, dass unsere Politiker den Enthusiasmus und den Mut zur Veränderung weitertragen, der sich in der Zivilbevölkerung heute zeigt.

Und wo bleibt die Angst? Es ist ganz normal, Angst zu spüren. Vor der Zukunft, vor dem was wir nicht kennen, was wir nicht planen, vielleicht auch nicht beeinflussen können. Aber wir dürfen nicht zulassen, dass die Angst uns lähmt, dass sie uns die Freude am Leben, die Begeisterung für etwas Neues wegnimmt. Wenn die Menschen immer in ihrer Angst verharrt wären, dann hätte es keine Revolutionen gegeben (Merksatz für ihren supergscheiten Wahlkampf übrigens, lieber Herr Strache!). Dann hätte es keinen Widerstand gegeben, keine Befreiung aus Monarchie oder Diktatur. Dann würden wir noch immer in unserer Höhle sitzen, zitternd vor dem Bär da draußen, der sich in Wahrheit noch mehr vor unserem Feuer fürchtet.

Live from a place of love instead of fear

Ob es also um die zahlreichen Flüchtlinge geht, die wir dieser Tage in einem neuen Leben willkommen heißen. Um den Obdachlosen, der nachts im Stadtpark friert. Oder die eigene Oma, die wir zuletzt an Weihnachten im Heim besucht haben. Wir sollten uns immer fragen: “Was würde die Liebe tun?” und danach handeln. Die Liebe ist die größte Kraft. Und nur die Liebe für das Leben, für unsere Familie, unsere Gemeinschaft, für die Freiheit und schließlich für die Menschen wird uns weiterbringen.

 


 

WICHTIG: Wenn ihr euch für Flüchtlinge engagieren wollt, dann gibt es viele Möglichkeiten: Vor Ort an den Bahnhöfen mit Sachspenden und freiwilliger Arbeit, Bargeld für Zugtickets, Bereitstellung von Unterkünften und generell mit Geldspenden für Flüchtlingseinrichtungen. Aktuelle Infos was wo wann gebraucht wird findet ihr unter anderem auf http://refugees.at/ und https://www.facebook.com/caritas.omni.bus

Geldspenden für die Caritas Flüchtlingshilfe – zur Unterstützung bestehender und Errichtung neuer Flüchtlingsquartiere – sind natürlich jederzeit und auch von Zuhause über https://www.caritas-wien.at möglich.


 

 

Sophia, ein Jahr jung. Foto von einer alten, vergessenen Filmrolle aus dem letzten Sommer. Gesund, glücklich und frei. Was für ein großes Geschenk!

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